Stefan Berchtold | Wo Bilder sind, ist Angst gewesen | Foto: Jan-Peter E.R. Sonntag

Wo Bilder sind, ist Angst gewesen

In der interaktiven Videoperformance Wo Bilder sind, ist Angst gewesen ist eine Schusswaffe auf einem Sockel festgeschraubt. Bei Berührung der Walther CP88 fällt ein Schuss und der lebensgroß projizierte Mensch fällt aus dem Bild.


»(…) Dieses Werk kann als radikale Weitung der modernen ästhetischen Reflexion des Künstlers auf das meist kriegerische Beziehungsdreieck Künstler – Kunst – Konsument (betrachtend oder zahlend) gelten; als eine interaktive Versuchsanordnung, die im Moment des Gelingens, des erwidernden Zusammenspiels von Kunstbetrachter, Kunstgegenstand und Bildobjekt die Unerreichbarkeit wirklicher Sensation, wirklichen Berührtseins und Berührtwerdens von und durch Kunst zeitigt. Berchtold dreht nämlich die gängigen Gründe für das ewige Missverständnis zwischen Kunst, Künstler und Kunstpublikum in eine Richtung, in der es Ernst wird mit dem »Was Du getötet hast, sollst Du auch lieben«.

Die Dreiecksbeziehung Kunstwerk, Künstler und Betrachter: sie funktioniert nicht als Trio. Aber als nichtfunktionierende wird sie stimmig. Einer muss sterben – und das Stratum fürs Tote, fürs Ausgeschlossene ist: das Bild. Und auch hier, in der Frage, ob die Bilder uns ausscheiden, uns deponieren, oder ob sie uns notwendigen Aufenthalt gewähren, der sonst in den normalen Räumen des Sozialen nicht mehr auffindbar ist, dreht Berchtold den Grad der Reflexion weiter als gewohnt, um zu demonstrieren, dass die Frage des Mediums gleichgültig ist, wenn und soweit das Metamedium namens Körpersinne Basis für Exkursionen ins Abstrakte, Virtuelle und Digitale bleibt.

Berchtold spürt der Selbstverständlichkeit nach, dass es weiterhin die Haut ist, das Paradox des Berührens/Berührtwerdens, das als heimliches Zentrum aller Objektivationen wirkt. Indes haben wir eine Entwicklung erreicht, in der wir uns nicht mehr ohne die Hilfe der Bildprothesen vergewissern können, was wir mit unseren Berührungen anrichten – wir müssen es sehen, weil wir es selbst nicht mehr spüren. Mehr noch: Die Überzeugung, dass unser Wissen darüber, dass wir ein materieller Körper sind, von der Existenz dieses materiellen Körpers und seiner spezifischen Organisationsform abhängt: sie scheint verschwunden, besser: perver­tiert. Die Materialität des Körpers scheint heute vom Wissen/Bedeuten, kurz: vom Bild des Körpers abzuhängen, nicht umgekehrt. Vielleicht ist das der eigentlich wirksame Traum aller Vorstellungen von Medien-Interaktivität: Einen direkten Durchgriff auf die Wirklichkeit der Bilder zu schaffen. Auch das bekommt man durch die Installation ex negativo – zu spüren.

Berchtolds »Wo Bilder sind, ist Angst gewesen« geht über ein Aide-memoire der Vico’schen Maxime hinaus, nach der »wir Menschen« nur das wirklich erfahren, was wir auch wirklich machen: das Wirklichmachen passiert zunehmend in den Bildern von Wirklichkeit, wie auch die alte Unterscheidung wirklich/virtuell zunehmend auf der Seite des Virtuellen ihr re-entry erlebt. Wir wissen noch nicht genau, was da geschieht: Bleibt es bei einer Realität, die keine der möglichen Wirklichkeiten aus ihrem subordinären Status entlässt? Oder modelt sich die Realität zu einer Möglichkeit unter vielen Möglichkeiten – und wird damit tendenziell unrealistisch? Berchtolds Werk öffnet genau zwischen diesen Fragen einen Horizont des »Dazwischen«; einen Horizont, in dem selbst der Tod nur noch dann möglich ist, wenn Menschen sich ihm nähern. (…)«

Bernd Ternes
Auszug aus: »Metaästhetik der Berührung und der Verkennung im
Werk ‚Wo Bilder sind, ist Angst gewesen‘ von Stefan Berchtold«

Wo Bilder sind, ist Angst gewesen | Videoprojektion 260x340cm, Walther CP88, MDF Sockel, Berührungssensor, Computer, Verstärker, Lautsprecher

 

Artist Statement:

Zwei Sachverhalte haben mich überrascht:
Erstens: Alle Besucher:innen lachen, nachdem sie den Schuss ausgelöst haben. Ich empfand das als ein wenig befremdlich und habe eine Überwachungskamera installiert. Wegen der Projektion war der Raum verdunkelt und der Zugang mit einem Vorhang abgehängt. Wenn Besucher:innen alleine den Raum betreten und den Schuss auslösen, dann wird nicht gelacht. Erst wenn sie den Raum verlassen, die erste Begegnung mit anderen Menschen stattfindet, dann lachen sie.
Zweites: Wenn mehrere Personen den Raum betreten, dann verhalten sich die meisten Besucher:innen zurückhaltend. Sie berühren die Waffe nicht, sondern sie warten, was passiert. Früher oder später kommt jemand ungeduldigeres, der die Waffe dann doch anfasst. Der Schuss fällt. Der Protagonist im Film bricht getroffen zusammen. Stille. Sieben von 10 Personen strecken den Arm aus mit ausgestecktem Zeigefinger und sagen: »Der war’s.«
Ich bin geneigt, anzunehmen, dass das Lachen hier unter anderem die Funktion einer Entschuldigung übernimmt.


4. Berliner Kunstsalon, Neue Kunsthalle Berlin, Zentralwerkstatt der BVG: Stefan Berchtold, Emanuel Fanslau, Ingolf Keiner, Dirk Hermann & Patric Tato Wittig, Spunk Seipel

Foto: Jan-Peter E.R. Sonntag