Stefan Berchtold | Der Traum vom Fliegen

Der Traum vom Fliegen

Bei den Filmaufnahmen für die ortsspezifische Videoperformance Der Traum vom Fliegen wurde eine Kamera in 15 Meter Höhe positioniert und aus Vogelperspektive gefilmt, wie eine menschliche Gestalt durch den stillgelegten Fahrstuhlschacht im Palast der Republik fällt. In der Installation ist die Filmprojektion auf den Boden gerichtet, als virtuelle Verlängerung des darüber liegenden Fahrstuhlschachts. Die Betrachter:innen stehen auf der Projektion.


»Der Traum vom Fliegen: in seiner ruiniertesten Gestalt wohnt man ihm, diesem Jahrtausende alten Wunsch, die Schwerkraft und damit die Leiblichkeit zu verlassen, in der Installation Berchtolds bei: indem man sich gen Boden neigt, mit einem Blick in die Tiefe. Die tiefsitzenden Assoziationen, die das Fliegen weckt – Transzendenz des Pneumas, der Atmosphäre, des vertikalen Aufsteigens – sind bei Berchtold verschwunden: visuell versenkt in die Tiefe. Aus der mythisch-anthropologischen Figur des Daidalos – »der Einfallsreiche« – ist in der Endmoderne nur noch der Fall »des Fallenden« übriggeblieben. Das Fliegen hat jegliche Grenzübersteigung, jegliches Berühren-Können des Unmöglichen verloren und zeigt sich in seiner rohsten, ungrazilsten Art: als Fallen durch die Luft, doch eigentlich als Fallen durch die Zeit. Isolation im Stürzen geht mit Weltverachtung und Menschenverachtung einher. Berchtolds Installation erlaubt jedoch, den Sturz wahrnehmend zu begleiten – und löst damit für die Kunst weiterhin ein Versprechen ein, das Vilém Flusser auf Menschen bezog: »Personen sind heute Fallschirme, die sich gelegentlich für einander öffnen.« – Eine minimale Geste, von der jedoch fast alles abhängt.«

Bernd Ternes


Ewiger Fall

»(…) Die gelungenen Werke der Ausstellung spielen mit jener Herausforderung der Einbildungskraft, die immer neue Bilder und Metaphern ersinnt, um Angst zu bannen, das Unerfahrbare darzustellen und Kunde zu geben von dem, wovon keine verlässlichen Nachrichten zu uns kommen. In einer Videoinstallation Stefan Berchtolds fällt ein Mensch durch einen virtuellen Schacht. Wenn wir vom Fliegen träumen, erleben wir möglicherweise den Fall, nie jedoch den Aufprall. Wäre der Zustand des Todes ein ewiges, nie endendes Fallen ohne ein Zerschellen? (…)«

Jens Bisky
aus: Irgendwann will man es doch wissen,
Süddeutsche Zeitung Nr. 215, 17./18. September 2005

Der Traum vom Fliegen | Bodenprojektion 6x6m, Verstärker, Lautsprecher, 3:36, Loop

 

Artist Statement:

Manche Menschen haben bereits geträumt, dass sie fliegen, manche, dass sie fallen und wieder andere träumen die Verknüpfung von beidem: Man träumt, man würde fliegen. Im Schlaf schaltet sich das Bewusstsein ein: »Das kann nicht sein. Ich muss träumen.« Und dann fällt man.
Hierbei scheint sich aufzudrängen, dass im Traum tatsächliches Erlebtes einen Abgleich erfährt: Auch wenn man nie Gleitschirm geflogen ist, so ist das Gefühl kurzen Schwebens beispielsweise vom Trampolinspringen bekannt. Für das eigene Ableben hingegen gibt es keinen Erfahrungsabgleich. Spätestens kurz vor dem Aufprall wacht man auf.


Fraktale IV, Palast der Republik Berlin: Stefan Berchtold, Oliver van den Berg, Benjamin Bergmann, John Bock, Jonas Burgert, Birgit Dieker, Harald Fuchs, Sid Gastl, Andreas Golder, Christian Hahn, Jörg Herold, Stephan Huber, John Isaacs, Ruprecht von Kaufmann, Ingolf Keiner, Herlinde Koelbl, Jörg Lange, Boris Nieslony, Alexandra Ranner, Tobias Regensburger, Rudolf Reiber, Anri Sala, Roman Signer, Twin Gabriel

Foto: Martin Kunze